Vom 7. bis zum 9. September 2022 fand erstmalig seit 2019 der von der Deutschen Gesellschaft für Suchtpsychologie, der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie und zahlreichen weiteren Fachgesellschaften ausgerichtete Deutsche Suchtkongress mit etwa 350 Besucher:innen wieder als Präsenzveranstaltung in München statt. Bereits während der Eröffnungsveranstaltung zeigte sich in einem Schlagabtausch zwischen dem bayrischen Minister für Gesundheit und Pflege, Klaus Holetschek, und dem Beauftragten der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, die mit der von der Bundesregierung geplanten Cannabisfreigabe zu Genusszwecken verbundene Kontroverse. Folgerichtig wurde das Thema Cannabis am ersten Kongresstag auch prominent in zwei Plenarvorträgen vertreten. Jürgen Rehm verglich dabei Effekte der Cannabislegalisierung in Kanada und in Thailand. Während in Kanada bei hohen Prävalenzen vor der Legalisierung einerseits keine nennenswerten Anstiege der Prävalenzen und cannabisbezogener Risikoverhaltensweisen festgestellt werden konnte, ergaben sich gleichzeitig keine Anhaltspunkte für einen Rückgang des Cannabiskonsums bei Jugendlichen, was von den Initiatoren der Legalisierung erhofft wurde. Thailand hingegen wies, ausgehend von niedrigen Prävalenzraten, einen Anstieg cannabisbezogener Probleme auf, der sich durch eine weitgehend unreglementierte Freigabe erklären lässt. Während die von Jürgen Rehm vorgetragene epidemiologische Perspektive allerdings nur begrenzt Aussagen zu cannabisbezogenen Störungen erlaubt, skizzierte Eva Hoch in einem weiteren Plenarvortrag bedeutsame Public-Health-Anforderungen für die Umsetzung der Cannabisfreigabe. Beide Vorträge betonten den bislang unzureichenden Kenntnisstand und die Notwendigkeit begleitender Evaluation. Auch in verschiedenen Symposien wurde das Thema Cannabis sowohl aus Forschungs- als auch aus Versorgerperspektive beleuchtet.
Weitere in Plenarvorträgen behandelte Themen waren der globale Zusammenhang zwischen Substanzkonsum und substanzbezogenen Störungen und den von der WHO propagierten nachhaltigen Entwicklungszielen (Robin Room), Funktion und Potential der sozialen Arbeit in der Suchthilfe (Rita Hansjürgens), Schadensminimierungsansätze am Beispiel der take-home Vergabe von Naloxon, mit der Notfälle durch Opiatüberdosierungen zuverlässig behandelt werden können (Paul Dietze) und der aktuelle Forschungsstand zu Verhaltenssüchten (Hans-Jürgen Rumpf).
In insgesamt 40 Symposien wurde ein breites thematisches Spektrum abgedeckt, welches von biologischer Grundlagenforschung über Epidemiologie und konzeptionelle Fragen bis hin zu Praxissymposien mit systematisierten Berichten aus der Versorgerperspektive reichte. Um die Versorgungspraxis stärker für den Suchtkongress zu gewinnen, wurden dabei – wie bereits im Vorjahr- im Vorfeld die Kriterien für die Begutachtung von Einreichungen an die Erfordernisse von nicht im Rahmen von Forschungsprojekten entstandenen Beiträge angepasst. Erfreulicherweise wurden in mehreren Symposien dann auch sowohl Beiträge aus der universitären Forschung als auch Beiträge aus der Praxis präsentiert und somit auch der kritische Austausch gefördert, was sich in einer mitunter ausgeprägten Diskussionsfreudigkeit der Teilnehmenden widerspiegelte. Zu wünschen wäre, dass die Beteiligung von Versorgungspraxis und auch von Suchtpolitik am Deutschen Suchtkongress in Zukunft weiter zunehmen wird. Der Suchtkongress 2022 hat nicht nur gezeigt, dass letztlich der persönliche Austausch essentiell für kontroverse Auseinandersetzungen ist, sondern auch, dass unter einer stärker auch die Suchtforschung rezipierenden Sucht- und Drogenpolitik Veränderungen zu erwarten sind, die perspektivisch sowohl die von Abhängigkeit Betroffenen als auch das Feld der Versorgung verändern dürfte.
Zu hoffen ist zudem, dass im kommenden Jahr der Deutsche Suchtkongress keinen Auswirkungen der Pandemie mehr ausgesetzt sein wird. Der Suchtkongress 2023 wird unter der Präsidentschaft von Eva Hoch vom 18.-20.09.2023 in Berlin stattfinden.